Nicht mehr lange. Nur noch ein paar Minuten. Dann müsste der Vollmond aufgehen. Hinter den Gipfeln im Osten, 400.000 Kilometer von der Erde entfernt, ihr einziger natürlicher Trabant. Nach der kurzen Wanderung hier herauf verlangsamt sich nun mein Puls. Die Atmung wird ruhiger. Kamera und Fernglas stehen bereit. Bis schließlich das Schauspiel beginnt.
Im Brandnertal kommt man den Bergen schon bei der Anreise außergewöhnlich nahe. Diese Gipfel gehören zwar nicht zu den höchsten, doch ist ihre Wirkung unverkennbar. Mit ihren dunklen Wäldern. Den schroffen Felsen. Und ihren Kreuzen, mehr als eintausend Meter über mir.
Jetzt, am frühen Abend, da kehrt eigentlich Ruhe ein im beschaulichen Brand. Einmal im Monat aber, da findet sich vor der Talstation der Dorfbahn eine bunt gemischte Menschentraube ein. So auch heute. Um 18 Uhr setzt sich dann plötzlich wieder die Bergbahn in Bewegung. Etwa eine Nachtschicht am Berg?
In einer der Gondeln treffe ich auf Max Sturm. Der Wanderführer kennt die Region wie seine Westentasche, jeden Weg, jeden Stein. Bei Tag – und auch bei Nacht. „Aufgewachsen bin ich in Tschengla, oberhalb von Bürserberg. Nach der Schule haben wir uns auf die Räder gesetzt, mit den Ski auf dem Rücken. Und jeden Sonntag nahm mich mein Vater mit an den Arlberg. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche.“ Max’ Geschichten klingen nicht nur wie pure Alpenromantik, sie entspringen tatsächlich einer früheren Zeit. 71 Jahre ist der Wanderführer alt. Zurück aus der Industrie, aus dem Berufsleben, wieder in seinen Bergen, zwischen Zimba, Schesaplana und Lünersee.
Es folgt eine weitere Fahrt. Mit der Panoramabahn, welche die beiden Skigebietsteile Brand und Bürserberg heute miteinander verbindet. Früher war hier kaum etwas, weiß Max zu erzählen. Im Tal gab und gibt es fast nur den Tourismus, was den Skibetrieb stetig hat wachsen lassen. Heute allerdings, da ändere sich das Bild. Die Sommermonate rücken zunehmend in den Fokus der Besucher, ebenso wie die Übergangszeiten. Das liege am Bikepark, der als einer der besten der Alpen zählt, aber auch an Aktivitäten wie dieser: Die Dämmerungswanderung auf einen wahrlich ausgezeichneten Aussichtspunkt. Den Loischkopf.
Biker sind keine mehr unterwegs, wie wir der Dunkelheit entgegenstapfen. Ohnehin habe es im Brandnertal genug Platz für alle Sportarten, ist sich Max sicher und zeigt mir immer wieder, wo die Trails schwungvoll ins Tal ziehen. Auch lerne ich etwas über die merkwürdigen Löcher inmitten des Waldes. Dolinen, hier häufig einfach Gipslöcher genannt, prägen das Bild. Außerdem erklärt Max, wie die Beschneiungsanlagen funktionieren und wie wichtig die intakte Natur der umliegenden Bergwelt für uns alle ist. Max kennt jeden Gipfel – und zu jedem eine ganze Hand voll Geschichten. Am Loischkopf angekommen, strahlt die Zimba im letzten Licht. Das Vorarlberger Matterhorn dominiert das Panorama mit seinem 2643 Meter hohen Gipfel.
Wir befinden uns mehr als 800 Meter unter diesem Felsturm. Doch für das, was nun kommt, ist der Loischkopf dennoch der perfekte Platz: Über dem Arlbergpass, zwischen Hohem Riffler und der Wildgrubenspitze, da glänzt plötzlich ein schillerndes Band. Der Vollmond schiebt sich langsam hinter dem Horizont hervor. Jeder hier oben hält jetzt den Atem an. Urplötzlich herrscht eine friedvolle Stille, in der die Faszination fast greifbar ist. Hier und da klickt eine Kamera. Mehr ist nicht zu hören.
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