Manchmal im Leben ist es Zeit, etwas Neues zu wagen. In solchen Momenten kommt das Abenteuer einer Hochskitour sehr gelegen. Kein Wunder: Wer schon öfter eine Skitour gemacht hat, möchte früher oder später höher hinaus. Szenenwechsel. Der Zug kommt gerade in Davos an. Wir steigen direkt in den Bus ins Seitental Dischma und entfliehen so dem Rummel der höchstgelegene Stadt Europas auf 1'560 Meter. Ein wohltuender Kontrast, als wir in Teufi aussteigen und den einheimischen Bergführer Adrian Rätz treffen. Von der Stadt direkt in die Natur in wenigen Minuten sozusagen. Kurzer Materialcheck und wir ziehen los. Schon nach den ersten Metern läuft mir der Schweiss in dicken Tropfen von der Stirn. Kein Wunder: Anders als bei einer gewöhnlichen Skitour tragen wir in unseren Rucksäcken auch eine komplette Gletscherausrüstung mit Steigeisen, Klettergurt, Seil und Eispickel. Langsam aber kontinuierlich bahnen wir unseren Weg hinauf durch den tiefen Schnee – und sind dabei auf historischen Spuren. Denn der Weiler Dürrboden, bei dem wir gerade ankommen, war früher eine wichtige Station auf der Säumerroute von Davos über den Scalettapass ins Engadin und weiter bis ins italienische Veltlin. Über Jahrhunderte hinweg wurde auf dieser Route Salz aus Tirol und Venedig sowie Wein aus dem Veltlin importiert. Wir halten an, kurze Verschnaufpause. Der Bergführer zeigt mit seinem Stock nach oben. Im Sonnenlicht leuchten die Flanken des Piz Grialetsch.
Text & Fotos: Franz Thomas Balmer
Die Route führt uns über den Talboden bis zur Furggabach-Einmündung und durch die Mulde gegen Osten hinauf via Furggasee zur Fuorcla da Grialetsch auf 2536 Meter. Die Zivilisation scheint plötzlich ganz weit weg zu sein. Das Ziel haben wir zwar noch nicht erreicht, doch ich fühle mich jetzt schon angekommen. Nur das meditative Klick-klack der Bindung ertönt bei jedem Schritt. Einsam ziehen wir unsere Spur hinauf durch das kupierte Gelände. Ich fühle mich ein bisschen wie der Kult-Aussteiger Chris McCandless aus dem Buch-Klassiker «Into the Wild». Meine Gedanken kreisen um seine Buchpassage: «Es gibt keine grössere Freude, als einen endlosen Horizont zu haben», als wir an schroffen Felsformationen irgendwo im Nirgendwo vorbeilaufen. Wie wahr.
Status checken, Insta-Story posten oder ein neues Profilbild hochladen? Fehlanzeige. Das Handy zeigt keinen einzigen Strich an – Funkloch. Aber eigentlich auch gar nicht so schlimm. Schnell verschwindet das Handy wieder in der Hosentasche. Wir holen uns ein Bier und setzen uns zu den anderen Tourengängern. Von der Stimmung her ist es ein bisschen wie damals beim Reisen vor Social Media, als man sich mit Gleichgesinnten an der Hostel-Bar getroffen hat. Einfach und unkompliziert. Nostalgie kommt auf. Einer erzählt, dass sie heute den Piz Grialetsch versucht hätten zu besteigen. Leider seien die Schneeverhältnisse nicht gut gewesen und sie sind wieder zurück zur Hütte abgestiegen. Vielleicht haben wir morgen mehr Glück. Die Bedingungen im Frühling wechseln stetig. Frühzeitig gehen wir nach dem Abendessen ins Bett. Ein letzter Blick aus dem Fenster: Das Abendlicht verfärbt die Berggipfel violett.
Plötzlich aus der Ferne taucht sie auf, die Grialetsch-Hütte. Das neue Dach mit den Solarzellen schimmert in der Frühlingssonne. Im Sommer 2021 wurde die SAC-Hütte umfassend saniert und um einen Holzbau erweitert. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Mit dem neuen Kapitel der Hütte folgte auch ein neue Hüttenwartpaar. Nach über 34 Jahren hat Hanspeter Reiss das Zepter an Werner und Tanja Schweizer weitergegeben. Die zwei empfangen uns herzlich bei der Ankunft. Erstmal Schuhe ausziehen und die Socken an der Sonne trocknen lassen. Werner bringt uns eine kalte Platte mit Fleisch, Käse, Brot und ein Glas seines selbstgemachten Holundersirups. Göttlich. Während die Terrasse der Grialetschhütte langsam schattig wird, erstrahlt der Piz Sarsura Pitschen vor uns noch immer hell in der Nachmittagssonne. Es wird kühl, wir wechseln nach drinnen. Vor dem Eingang schlüpfen wir in unsere Hüttenschuhe, die fein säuberlich im Regal beim Eingang nach Grössen geordnet sind. Gleich begeben wir uns auf eine Zeitreise, ohne es zu wissen.
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