Gargellen, das höchstgelegene Dorf im Montafon, lockt mit gleich einem ganzen Dutzend schneesicherer Skitouren – und als Zugabe mit Abstechern zu den Bündner Nachbarn und zur Bielerhöhe in der Silvretta.
Bis vorgestern fielen Schneeflocken vom Himmel. Es waren viele, sehr viele. Die Kristalle verhakten sich ineinander, stapelten sich fast einen halben Meter hoch und überzogen die Landschaft mit einer neuen, blütenweißen Decke. Kein Kristall glich dem anderen, jede Flocke war ein Unikat. Beim Blick aus dem Fenster heute Morgen hatten wir uns gefragt, ob man so ein Kunstwerk der Natur überhaupt betreten und mit Ski und Stöcken ankratzen darf. Jetzt hat Bergführer Martin Marinac die Frage für uns beantwortet: So wie ein Segelboot vor dem Wind kreuzt, legt er in den Hang vor uns eine Zick-Zack-Spur und befindet: „Ja, man darf hier als Gast schon unterwegs sein, wenn man dieser unberührten, jungfräulich scheinenden Welt mit Respekt begegnet.“ Dann schweigt er wieder. Schweigen auch wir wieder. Der einzige Sound ist das Klack-Klack der Tourenbindung und das gleichmäßige Geräusch, wenn wir die Felle über die weiße Pracht nach vorne schieben.
Wir sind unterwegs im Talschluss von Gargellen, dem höchstgelegenen Dorf im Montafon. Unsere Skitour auf die Rotspitze startete keine hundert Meter vom Hotel entfernt, bequemer geht es nicht. Für Martin war es nicht schwierig gewesen, ein solches Komfortpaket zu schnüren, denn rund um Gargellen gibt es nicht weniger als ein Dutzend Skitouren-Optionen. Man kann sich hier zwei Wochen lang austoben, ohne eine Tour zweimal zu gehen. Für die Rotspitze hat er sich entschieden, weil sie technisch mäßig anspruchsvoll ist und die nicht zu steilen Hänge jede Menge Abfahrtsspaß versprechen – genau das Richtige für den ersten Tag und mit Gästen, die er nicht kennt. Wir indes hatten ein bisschen Sorge, dass uns eine ganze Meute an Tourengehern den Pulverschnee streitig machen würde. Schließlich war Sonntag, es hatte frisch geschneit, und die Kälte konservierte Frau Holles Fracht in perfekter Weise. Doch sehr bald merkten wir: Im Montafon geht es abseits der Pisten noch ruhiger zu als im Dunstkreis von München, Innsbruck oder Salzburg. Weil es so viele feine Touren gibt. Aber auch deshalb, weil sich dieser südliche Zipfel Vorarlbergs seinen Charakter als Geheimtipp bewahrt hat.
Tatsächlich drehen sich die Uhren in Gargellen etwas langsamer. Es gibt zwar ein kleines Skigebiet. Aber die 119 Einwohner wissen, dass sie in Sachen Pistenkilometer und Aufstiegshilfen nicht mit Arlberg, Silvretta Nova & Co. mithalten können. Die Einheimischen haben deshalb aus der Not eine Tugend gemacht und vermarkten die Abgeschiedenheit als die wahre Attraktion des Ortes: Idyll statt Exzess. Sie erzählen gern, dass das erste Auto Gargellen nicht vor 1923 erreichte; dass der Talschluss lange ein Eldorado für Schmuggler war; dass ihre Heimat im Lawinenwinter 1999 drei Wochen lang von der Außenwelt abgeschnitten war; dass ihr Freizeitangebot im Winter ganz ohne Event-Schnickschnack à la James-Bond-Drehrestaurant und Ötzi-Kult auskommt. Beste Voraussetzungen also, um Skitourengehen zur Königsdisziplin zu küren.
Inzwischen haben wir die Röbi-Alpen passiert. Maisäß nennt man im Montafon diese Sömmerungsgebiete für das Vieh, was daran erinnert, dass die Schweiz nicht weit ist, wo solche gerodeten Flächen mit Hütten und Ställen Maiensäss heißen. Nach einer Querung geht es steiler weiter. Unter uns wabern Nebelschwaden wie die Schichten einer Lasagne. In Momenten, in denen die Sonne den Kampf gegen die Wolken verliert, ist es eisig kalt, hinreichend warm hingegen, wenn die Sonne den Nebel verjagt und einen tiefblauen Himmel über die in Weiß gehüllten Riesen stülpt. Martin hält jetzt auf den markanten Nordosthang links der Rotspitze zu, der einen von Wechten freien Durchschlupf auf den Kamm ermöglicht. Spitzkehre um Spitzkehre geht es nach oben. Um uns die diffizilen 180-Grad-Richtungswechsel zu erleichtern, modelliert Martin mit seinem leichten Titan-Pickel flache Podeste in den Schnee – was für ein Service. Erst ganz zum Schluss müssen wir die Latten ausziehen und schultern, ehe es in wieder flacherem Gelände zum Ski-Depot und zu Fuß zum höchsten Punkt geht.
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