Die magischen 3000: Hohe Gipfel, lange Touren, dünne Luft. Dreitausender sind begehrte Ziele. Alpenweit soll es davon mehr als dreitausend geben, je nach Zählweise etwa 3700. Einige von ihnen bleiben erfahrenen Alpinisten vorbehalten. Andere erfordern Grundkenntnisse und Spezialausrüstung, beispielsweiße wenn gefährliche Gletscherpassagen überwunden werden müssen. Doch es gibt auch einfache 3000er, mit Prachtblick und landschaftlich wunderschönen Aufstiegen. Sie stellen perfekte Ziele dar, um erste 3000er-Luft zu schnuppern. Einer davon ist die 3033 Meter hohe Vordere Rotspitze im Martelltal.
Mutterseelenallein stehe ich in der Morgensonne. Zugegeben: Jetzt wäre es mir lieber einen Partner an meiner Seite zu spüren. Doch Thomas Schuler gab mir erst gestern Abend einen letzten Motivationsschub. Als Local, Hotelier und Wanderführer kennt er sich im Vinschgau bestens aus. Konditionell sei ich fit genug. Vermutlich würde ich weiteren Bergsteigern begegnen. Außerdem sei durchgehend das Mobilfunknetz verfügbar, sollte es Probleme geben. Die Vordere Rotspitze schaffe ich auch allein, war er sich also sicher.
Zwar habe ich mich im Hotel ordnungsgemäß abgemeldet und eine ungefähre Rückkehr angegeben. Dennoch fühle ich mich fast etwas überwältigt von dieser Aufgabe. Schon die Anfahrt hierher war eindrücklich. Immer höher schlang sich der Asphalt den Berg hinauf, bis hierher, wo ich auf 2055 Metern den Wagen parkte. Ein so hoch gelegener Ausgangspunkt ist natürlich von Vorteil. Dennoch trennen mich noch mehr als 1000 Höhenmeter von meinem Ziel. In der Stille des Morgens mache ich mich auf den Weg.
Anfangs ist das Wegenetz noch dicht: Die Zufallhütte, der Schluchtenweg, mehrere Wasserfälle und gleich ein ganzes Dutzend weiterer 3000er. Im Martelltal finden Bergfreunde die unterschiedlichsten Ziele. Perfekt ausgeschildert ist mein Weg immer gut zu finden – und landschaftlich kaum zu überbieten. In einem kleinen See spiegelt sich auch schon die Rotspitze unter stahlblauem Himmel. Perfektes Wetter. Noch! Denn im Laufe des Tages sollen Quellwolken aufkommen. Ein häufiges Problem in den Sommermonaten, das es genau im Auge zu behalten gilt.
Das Martelltal ist wild. Der Talgrund ist großflächig von Wollgraswiesen bedeckt. Die unzähligen silbrig-weißen Blüten schaukeln sanft in der klaren Bergluft hin und her. Darüber thront die Zufallhütte. Auf einem felsigen Absatz gelegen, bietet sie sich auch als Übernachtungsmöglichkeit an. Ihren eigenartigen Namen hat die Hütte der Plima zu verdanken. Dieser Gebirgsfluss bündelt sich unweit der Hütte zu einem reißenden Strom, der über mehre Felsstufen in die Tiefe fällt („Zum Wasserfall“). Nach einer guten Stunde stehe ich bereits weit über dem Dach der Hütte, die erst jetzt in den Genuss der ersten Sonnenstrahlen kommt. Nach dem einsamen Start am Bergfuß, ist dies der zweite erhabene Moment auf dem Weg zu meinem ersten 3000er.
Der märchenhafte Nadelwalt ist zwar von überwältigender Schönheit. Doch langsam lichten sich die Bäume und geben den Blick frei. Dominiert wird das Bild von nun an von einem stark vergletscherten Bergmassiv, dessen höchster Gipfel der 3769 Meter hohe Monte Cevedale ist. Ein überwältigender Anblick, der mich spüren lässt, wie klein ich in dieser Bergwelt doch bin.
Auf 2300 Metern stehen nur noch vereinzelt Bäume. Darüber wird das Leben für sie unmöglich. Nur noch Gräser, widerstandsfähige Stauden, Moose und Flechten finden hier Platz. Fasziniert davon wie deutlich die unterschiedlichsten Vegetationsstufen hier zu sehen sind, lässt mich dieser Umstand aber auch spüren, dass ich langsam an Höhe gewinne. Ein kurzer Blick auf die Uhr: Ich liege gut in der Zeit und noch ist kein Wölkchen am Himmel zu sehen. Weit unter mir sehe ich nun auch Wanderer aufsteigen. Kleine bunte Punkte, die mir das Gefühl nehmen allein am Berg zu sein. Ich bin dankbar für diese Art der Gesellschaft und schreite motiviert weiter bergauf.
(...)
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